Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe empfiehlt allen deutschen Haushalten, einen literarischen Notvorrat für zehn Tage anzulegen.
Dieser Notvorrat sollte pro Person umfassen:
- 5 kg Lexikon, falls das Internet ausfällt
- 3 kg Kinderbücher für die nostalgische Grundversorgung
- 2 kg Krimis für das niedere Spannungsbedürfnis
- 500 g Klassiker zur widerwilligen Weiterbildung
- 300 g konzentrierte Lyrik
- 1 Liebesroman und 1 Vampirroman (nach Möglichkeit unvermischt)
- 1/2 historischer Roman
- verdauungsfördernde Zeitschriften oder Comichefte zur Auslage im Bad
- 2-3 Bücher, die Sie endlich mal lesen wollten
Um die ohnehin angespannte Stimmung während einer Notlagensituation nicht zusätzlich zu verschlimmern, rät das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe dagegen dringend, den literarischen Notvorrat freizuhalten von:
- frustrierend unverständlicher Fachliteratur
- schweren Büchern, die im Konfliktfall als Waffe dienen könnten
- bürgerlichen Trauerspielen
- existenzialistischen Romanen
- Kafka
Nein, das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe empfiehlt natürlich nicht, einen literarischen Notvorrat anzulegen. Warum auch? Bücher sind nicht systemrelevant, das haben wir jetzt gelernt. Buchläden und Bibliotheken schließen im Notfall ganz schnell. Und da sitzt man dann zu Hause mit seinen achtzig Rollen unbedrucktem Klopapier und guckt blöd aus der Wäsche.
Es stimmt schon: Wenn der Küchenschrank leer ist und ich am Verhungern bin, dann hilft mir Anna Karenina nicht. Es sei denn natürlich, wie sprechen von der berühmten Sankt Petersburger Jahrhundertausgabe von 1899, die seinerzeit mit Russisch Brot gesetzt und auf Esspapier gedruckt wurde, aber von der gibt es weltweit bekanntlich nur noch drei überlebende Exemplare, eines wurde im Januar bei Sotheby’s versteigert. Das ist also eher unwahrscheinlich.
Von Büchern kann man nicht leben. Wenn die Trinkwasserversorgung zusammenbricht, kann ich mich nicht an Bukowski besaufen. Wenn mir der Strom ausfällt und ich im Dunkeln sitze, kann mich Voltaire nicht erleuchten. Wenn die Heizung im Winter nicht mehr funktioniert, kann ich nicht die Füße in den Sandstrand auf Robinson Crusoes Insel stecken und sie mir aufwärmen. Wenn ich Fieber kriege, brauche ich Ibuprofen statt Ibsen und Paracetamol statt Pasternak. Und wenn Klopapier zur Mangelware wird, was natürlich ein eher unrealistisches Katastrophenszenario ist, aber man muss auf alles vorbereitet sein, dann kann ich mir den Arsch nicht mit den Känguru-Chroniken abwischen. Oder, also technisch gesehen kann ich das natürlich schon, aber es sendet irgendwie das falsche Signal.
Kunst und System sind immer so eine Sache: Sie können nicht ohneeinander, aber miteinander können sie auch nicht. Jedenfalls nicht so richtig. Die Kunst rüttelt am System, manchmal aus tief empfundener Dringlichkeit, manchmal auch nur aus pubertärer Freude am Rütteln, und beides hat durchaus seine Berechtigung; aber sie braucht das System, ohne System hätte sie ja überhaupt nichts mehr zu rütteln. Das System dagegen toleriert die Kunst, genießt die Kunst sogar mitunter, aber als Teil des Systems akzeptiert es sie erst, wenn sie sich etabliert und gesetzt hat, idealerweise in Form toter Klassiker. So ein Goethe ist heute ganz pflegeleicht, der macht keinen Radau mehr, belastet die Künstlersozialkasse nicht und sieht in Marmor gut aus. Lebenden Künstlern bringt das System dagegen immer ein gewisses Grundmisstrauen entgegen, eben weil sie noch leben, weil sie essen und wohnen müssen und dafür nicht arbeiten wollen. Kunst ist nämlich keine echte Arbeit, das ist herrschende Meinung; auch wenn nicht alle, die das insgeheim denken, es laut aussprechen, denken es doch viele. Und es liegt ja auch irgendwie nahe. Kunst kann man nicht essen, nicht trinken, sie heilt keine Krankheiten, repariert keine Heizungen und baut keine Häuser. Künstler oder Künstlerin ist kein Ausbildungsberuf. Man muss schon ein Arzt sein, um Arzt sein zu können; Bücher schreiben dagegen, das kann jeder, der in der Grundschule sein Alphabet gelernt hat. Und Bücher sind nicht systemrelevant.
Was „echte Arbeit“ eigentlich sein soll, konnte mir bis heute übrigens niemand überzeugend erklären. Was tut denn ein Schriftsteller, was tut eine Schriftstellerin, wenn nicht arbeiten? Wer schreibt, benutzt seine Hände. Natürlich würde ich mir von Juli Zeh nicht den Blinddarm rausnehmen lassen und natürlich kann man Peter Handke nicht auf die Baustelle stellen und erwarten, dass er ein Haus hochzieht, der beschimpft da höchstens die ganze Zeit alle.
Aber trotzdem brauchen wir Bücher. Und wir brauchen sie nicht nur, damit uns nicht langweilig wird, das ist ein großes Missverständnis, dafür tun es zur Not auch ein paar Bauklötze und ein Kreisel. Wir brauchen Bücher zum Bevölkerungsschutz und zur Katastrophenhilfe. Wir brauchen Bücher zum Überleben, obwohl wir von Büchern allein nicht leben können. Vom Brot allein aber auch nicht, wie mal ein berühmter Bestsellerautor schrieb, den Titel hat ihm dann ein anderer berühmter Bestsellerautor geklaut. Wo es Menschen gibt, die lesen wollen, da muss es auch Menschen geben, die schreiben. Und Menschen, die lesen wollen – die lesen müssen – gibt es immer. Wir brauchen Bücher, damit wir nicht durchdrehen. Gerade in Krisenzeiten.
Wir brauchen sie, um zeitweilig vor unseren Sorgen zu fliehen und wir brauchen sie, um uns langfristig unseren Sorgen zu stellen. Wir brauchen sie, um unseren eigenen Horizont zu überschreiten und besser zu verstehen, wie es in anderen Köpfen, in anderen Herzen aussieht. Wir brauchen Bücher, um uns nicht allein zu fühlen. Nichts gibt einem so sehr das Gefühl, Teil einer verschworenen Gemeinschaft zu sein, wie ein zweihundert Jahre altes Buch zu lesen und darin einen Satz zu finden, der heute noch stimmt, eine Beobachtung zu lesen, die man vorhin erst selbst gemacht hat, an der Supermarktkasse oder bei der Arbeit oder beim Sex. Wir brauchen Bücher, um zu verstehen und uns verstanden zu fühlen. Und ich sagte es schon: Wir brauchen Bücher, damit wir nicht durchdrehen. So einfach ist das. Und so systemrelevant.
Vor kurzem ging es mir schlecht, da musste ich an ein Buch denken. Es war ein Buch von Stefan Zweig, es war die Schachnovelle. In der Schachnovelle bewahrt sich ein gewisser Doktor B., den die Gestapo monatelang in Isolationshaft hält, seine geistige Gesundheit, indem er einem Offizier ein Buch aus dem Mantel stiehlt, um etwas zu lesen zu haben. Um nicht durchzudrehen. Das ist eine schöne Metapher für schwierige Zeiten.
Wenn das System zusammenbricht, verschwinden mit ihm auch die Bücher. Aber wenn die Bücher zuerst verschwinden –
– wie der Satz weitergeht, das wisst ihr.